Der freie Atem und das Nervensystem

Innere Unruhe, Nervosität, nervöse Erschöpfung sind heute häufige Erscheinungen, die mit Störungen des Nervensystems zu tun haben. Häufig ist auch das vegetative Nervensystem betroffen (Verdauungsstörungen, Schlafstörungen, Erschöpfung, Kreislaufprobleme (z. B. Blutdruckprobleme, Herzrhythmusstörungen).

Um hier günstige Ansätze zu finden und störende Einflüsse besser zu erkennen, ist es wertvoll, den Blick auf eine Grundgliederung des Nervensystems zu richten.
Seit langem werden im Nervensystem 2 Bereiche unterschieden: Das zentrale Nervensystem (ZNS) und das vegetative Nervensystem (veg. NS) 

Das ZNS besteht aus Gehirn und Rückenmark. Es ist wesentlich für die  bewussten Prozesse des Menschen zuständig. In dem hier beschriebenen freien Atem werden diese bewussten Prozesse gefördert.

Hat z. B. ein Mensch Interesse an einer Übung des freien Atems, so schaut er sich ein Bild von dieser an, liest einige Beschreibungen dazu und praktiziert sie. Aus der Praxis entstehen neue Fragen, durch die er wieder auf Bücher oder Lehrer zugeht. Dann geht er mit neuen Ideen wieder in die Praxis, usw..  Im rhythmischen Wechsel setzt er seine Augen, sein bewusstes Erleben, sein Denken und auch die Kraft, sich eine Vorstellung aufbauen zu können aktiv ein. Er gebraucht, trainiert und erweitert sogar sein Bewusstsein, sein ZNS bei dieser günstigen Form der Auseinandersetzung.

Das veg. NS steuert die Lebensprozesse (Atmung, Verdauung, Herz-Kreislauf, Wärmeregulation, Regeneration in der Nacht…), die dem Erhalt des Lebens dienen und die meist völlig unbewusst ablaufen. Auch die „Wahrnehmungsorgane“ des veg. NS  (z. B. Rezeptoren die den Sauerstoffgehalt im Blut messen) sind unbewusst und nach innen gerichtet. Ganz im Gegensatz hierzu sind die Wahrnehmungsorgane des ZNS (Augen, Ohren,...) nach aussen gerichtet.

Der Atem wird hauptsächlich vom vegetativen NS unbewusst gesteuert. Er passt sich in seinem Tempo und seiner Tiefe ständig sehr weisheitsvoll den Aktionen des Menschen an. Der Atem bewegt sich anders in Ruhe als beim Sport. Um diese Regulation muss sich der Mensch nicht kümmern, er könnte dies auch niemals so weisheitsvoll aussteuern.

Folglich ist es nicht günstig, die eigenen Lebensprozesse (Atem, Herzschlag, Verdauung, usw.) übermässig wahrnehmen zu wollen, denn dadurch fördert man eine Nervosität die diese Prozesse  in eine Unordnung bringt.   Dies findet sich z. B. bei Menschen, die sich zu sehr um die eigene Gesundheit kümmern, jede Veränderung in der Atmung, Verdauung beobachten. Abzuraten wäre aus diesem Grunde auch, zu intensiv und längerfristig in die Lebensprozesse (z. B. die eigene Atmung) einzugreifen, wie es z. B. bei bestimmten Yogatechniken (pranayama und bandha) geschieht.

So wird beim hier beschriebenen freien Atem der Atem hauptsächlich durch die Art der Bewegung oder Körperhaltung sowie durch den Einsatz des Bewusstseins gefördert und entwickelt.

Ein weiterer sehr erwähnenswerten Gesichtspunkt für die Gesundheit des Nervensystems ist folgender:

Das Bewusstsein, das zentrale Nervensystem, will sich im rechten Maße weiterentwickeln, ausdehnen (das entspricht dem Lernen oder einer Bewußtseinserweiterung). Dazu muss der Mensch seine Sinne nach außen zu einem Gegenüber richten und seine Empfindungs-, Gedanken- und Vorstellungskraft einsetzen. Er stellt sich sozusagen wach und bewusst den neuen Erfahrungen und Eindrücken der Aussenwelt gegenüber. Dadurch kann er diese einordnen, verarbeiten und in seine Persönlichkeit integrieren; er lernt und wird reifer.

Ist nun aber dieses „sich wach und bewusst den Eindrücken gegenüber stellen können“ wenig entwickelt, so gelangen viele Eindrücke ungeordnet über die Sinne bis ins veg. NS und führen dort zu Unordnungen (vegetative Dystonie). Das wache und bewusste Wahrnehmen des Gegenübers hingegen stärkt das Nervensystem, so dass die Aufnahmefähigkeit der sensiblen Nerven steigt und sich die Konzentrationsfähigkeit im Alltag verbessert.

Im vegetativen Nervensystem dagegen laufen, wie erwähnt, ja die unbewussten Lebensprozesse ab. Auch sind nach geistiger Sicht hier alle vergangenen Eindrücke und Erfahrungen des Menschen aufgespeichert.

Nun ist aber das zentrale Nervensystem mit dem vegetativen Nervensystem ständig verbunden. Setzt nun ein Mensch seine Entwicklungsmöglichkeiten, die er durch das Bewusstsein hat, nicht genügend ein, so ist sein zentrales Nervensystem nicht im gesunden Maß beschäftigt. Es entsteht dann eine Art ungenutzter Raum, in den hinein zu viele unbewusste Inhalte aus dem vegetativen Nervensystem aufsteigen können (z. B.: Ängste, Zwänge, alte Muster, besetzende Gedanken). Diese führen dazu, dass das Bewusstsein und der Atem beladen und eingeengt wird. Der Mensch wird dann zu viel von seinem Unbewussten geführt. Ein gut eingesetztes Bewusstsein lässt das vegetative Nervensystem in Ruhe arbeiten. Allgemeiner gesprochen braucht der Mensch für seine gesunde Entwicklung Begegnungen nach außen (Mitmenschen, andere Gedanken, …) und auch eine bewusste Auseinandersetzung mit diesen Begegnungen. Nur aus seinem bisher angelegten Innenleben heraus kann er sich nicht genügend entwickeln.

 

Anwendungsbeispiel bei innerer Unruhe: Die Yogaübung: Der Baum (tadasana)

Um zu einer inneren Ruhe zu kommen, ist das Hinzunehmen einer vertiefenden Vorstellung zur körperlichen Übung sehr wertvoll. Jede Vorstellung, die von Geistforschern ergründet wurde und die der Wirklichkeit der Seele entspricht, wirkt befreiend, beruhigend und ordnend auf den Atem, auf das Bewusstsein und somit auf das Nervensystem. Diese ordnende und sogar „erhebende“ Wirkung steigert sich, in dem der Übende wiederholt mit der Vorstellung umgeht, diese zunehmend empfindet und diese schließlich sogar mit seinem Körper zum Ausdruck bringt.

Man kann z. B. folgende Vorstellung zur Baum-Übung hinzufügen:

Im Baum steht der Mensch mit offenen Augen und einem Blick nach aussen sehr aufrecht auf einem Bein. Er steht wach und aufmerksam der Aussenwelt gegenüber. Auch die weit in den Raum gerichteten Arme drücken ein klares und wahrnehmendes Verhältnis zur Umgebung aus. Dieses klare und wahrnehmende Verhältnis beruhigt und zentriert den Atem in der Region des Herzens. Dies drückt sich sehr schön in der folgenden zentrierenden Armgeste aus. Die Unruhe im Bewusstsein weicht und das Nervensystem wird entlastet, gestärkt und aufnahmefähig.

Günstig ist es, diese Übung, evtl. auch in Verbindung mit anderen Übungen, je nach vorhandener Zeit 1 bis 3 mal täglich über einige Tage hinweg zu praktizieren. Achten sie, dass die Übungen in der Vorbereitung und beim Praktizieren von klaren Vorstellungen, Wahrnehmungen und Empfindungen begleitet werden. Hierdurch kann das Bewusstsein aktiv ordnend und beruhigend wirksam werden.

Das Wahrnehmen, Spüren und Erleben in der Übung ist wichtig. Geschieht dies jedoch ohne konkrete Vorstellung so kann die fein ordnende Kraft des Bewusstseins nicht tätig werden. So unterscheidet sich die Anleitung, “Spürt Euren Atem” von der Anleitung, “Könnt ihr euren Atem innerlicher und zentrierter im Brustkorb wahrnehmen?”.